Ganz ohne Zensur Staatsaufgabe und Bürgerpflicht. Deutsche Medien zu Nahost

Gesellschaft

Sehr schnell war in diesem neuerlichen Krieg klar, wer die „Guten“ und wer die „Bösen“ sind.

Israelischer Panzer in Gaza, Januar 2024.
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Israelischer Panzer in Gaza, Januar 2024. Foto: IDF Spokesperson's Unit (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

20. Januar 2024
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Schon Zehnjährige konnten einem aufsagen, dass die Hamas schuld ist, weil sie angefangen hat; dass Israel deshalb Recht hat mit seinen Gegenschlägen, dass „wir“ aber auch der Bevölkerung in Gaza zu Hilfe kommen.

In Deutschland gelten die israelischen Aktionen bei den massgeblichen Medien bis heute als eindeutig gerechtfertigt. Das überrascht nicht wirklich. Schliesslich hat die Regierung deutlich und wiederholt die Leitplanken vorgegeben: „Die Unterstützung Israels ist und bleibt deutsche Staatsraison“, haben sowohl Kanzler Olaf Scholz wie Aussenministerin Annalena Baerbock festgestellt. Und Bundespräsident Steinmeier hat bekräftigt: „Der Schutz Israels ist deutsche Staatsaufgabe, aber er ist auch eine Bürgerpflicht.“

Darüber hinaus liess die Regierung verlauten, dass sie keinerlei Zweifel an Israels Kriegsführung hege: „Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten“, so Scholz Ende Oktober beim EU-Gipfel in Brüssel. Frage: Wie sind die deutschen Leitmedien mit dieser „Staatsaufgabe“ umgegangen? Darum soll es im Folgenden gehen.

Mit Worten Stimmung machen

Am Anfang stehen die Benennungen. Die ARD hat ihre Berichterstattung zum Überfall der Hamas zu Beginn, am 7. Oktober, mit der Bezeichnung der Hamas als „Kämpfer“ begonnen, schwenkte aber am zweiten Tag um auf die „Terroristen“. Man könnte zunächst denken, dass diese Bezeichnung etwas mit der Grösse oder Brutalität der Gewalt zu tun hat, die von der Hamas ausgeübt wurde. Allerdings wäre es schwierig, das zu messen oder gegeneinander abzuwägen.

Die Gewalttaten der Hamas in den israelischen Kibbuzim, mehrheitlich brutale Überfälle auf zivile Opfer, gegen die massive Bombardierung von Gaza durch Israel mit ebenfalls mehrheitlich zivilen Opfern – was davon ist schlimmer oder weniger schlimm? Die Opfer sind in beiden Fällen tot oder verletzt. Die Verwendung des Begriffs „Terror-Organisation“ bzw. „Terroristen“ ist Ausdruck der De-Legitimation von Gewalt, die irgendwelche Gruppen/Organisationen, in diesem Fall die Hamas, ausüben – und zwar vom Standpunkt staatlicher Gewalt aus, sprich: einer Gewalt, die als legitim gilt.

Allerdings ist diese De-Legitimation kein Automatismus: Es gibt durchaus auch „Terror“-Gruppen, die als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet wurden, etwa die afghanischen Islamisten, solange sie noch gegen die Sowjetunion gekämpft haben und nicht gegen die USA. „Terror-Organisation“ ist also die Benennung für eine neben- bzw. nicht-staatliche Gewaltausübung, die politisch nicht erwünscht ist.

Nebenbemerkung: in Grossbritannien hat es über diese Frage der Bezeichnung im aktuellen Fall einen Streit zwischen der BBC und der englischen Regierung gegeben. Die Regierung zeigte sich unzufrieden mit der aus ihrer Sicht zu neutralen Benennung der Hamas als „gunmen“ oder „fighters“; die BBC ihrerseits weigerte sich, den Begriff „Terroristen“ zu verwenden: »Es ist einfach nicht der Job der BBC, den Leuten zu sagen, wen sie unterstützen und wen sie verdammen sollen«, so der Auslandskorrespondent John Simpson.

Bemerkenswert daran ist das Bewusstsein der BBC-Journalisten, dass die Verwendung der Begrifflichkeit eine moralische Parteilichkeit stiftet und stiften soll. Genau das wusste auch die Tagesschau. Es gab in der Redaktion „Hinweise und Bitten, wie die Redakteure und Sprecher im aktuellen Fall mit Worten, Begriffen und Zusammenhängen umzugehen haben; der entsprechende interne Schriftverkehr wurde dem Onlineportal Nachdenkseiten zugespielt. Dort heisst es: „,Hamas-Kämpfer' bitte vermeiden! Wie bereits von der Chefredaktion festgelegt, sollten wir nicht euphemistisch von Hamas-,Kämpfern', sondern von Terroristen schreiben und sprechen. Als Synonyme bieten sich ,militante Islamisten', ,militante Palästinenser', ,Terrormiliz' oder ähnliches an.“ Im Unterschied zur BBC wollte die Tagesschau also durchaus sagen, wer die Bösen sind.

Halten wir fest: Die Profis der Meinungsbildung sind sich des manipulativen Gehalts, der bereits in den elementarsten Formulierungen steckt, genau bewusst und gehen damit so um, wie es ihnen für die von ihnen erwünschten Ergebnisse nützlich erscheint.

Im Folgenden noch ein paar Beispiele für diese Kunst der Namensgebung im aktuellen Fall:
  • Die Bezeichnung der Hamas kommt bei den etablierten Medien nicht aus ohne den Zusatz „die radikal-islamistische Hamas“, wenn nicht gleich – wie etwa bei Bild – als „die Bestien“ bzw. „die Barbaren“.
  • Dagegen heisst die israelische Militärmaschinerie, die als eine der härtesten der Welt gilt, stets sachlich-neutral: „Armee“ bzw. „Militär“ – was sich gegenüber „Terroristen“ bzw. „Barbaren“ wesentlich ungefährlicher anhört. Natürlich kann die israelische Armee unvergleichlich mehr Gewalt entfalten (und tut das ja auch) als die „bestialischen“ und „brutalen“ Kämpfer der Hamas, die nicht annähernd über Waffen mit einer solchen Durchschlags- und Zerstörungskraft verfügen.
  • Der israelische Verteidigungsminister wurde in den deutschen Medien mit der Charakterisierung der Palästinenser als „menschliche Tiere“ zitiert, ohne dass dieser radikale Rassismus in der deutschen Öffentlichkeit irgendwie skandalisiert oder wenigstens zurückgewiesen wurde.
Dass einfache Worte gänzlich falsche Vorstellungen transportieren, zeigt auch der von den deutschen Medien über mehr als eine Woche lang benutzte Begriff „Massenevakuierung“, den die israelische Armee vorgegeben hatte mit ihrem Ultimatum an die Bevölkerung von Gaza Stadt, innerhalb von 24 Stunden in den Süden zu fliehen. „Massenevakuierung“ kennt man als kollektive Schutzmassnahme; so etwas muss organisiert stattfinden, wenn es helfen soll. Das Gegenteil war in Gaza der Fall: hier sollten die Leute einfach abhauen, ohne Transportmittel, ohne ein Ziel, bei dem Wasser, Essen, Behausung und medizinische Versorgung bereit stehen. Sie mussten ihre Alten, Kranken und Verletzten zurücklassen und sich in einer Art Massenpanik bei nicht nachlassender Bombardierung auf den Weg machen. „Massenevakuierung“ war dafür ein ein harter Euphemismus.

Worum ging es tatsächlich? Erstens sollten die Leute Platz machen für eine effektive Bodenoffensive; zweitens wurde damit präventiv die Schuldfrage geklärt: Wer hinterher tot ist, ist selbst schuld – er hätte ja gehen können. Und drittens war es die erste Phase einer Vertreibung – denn eine Rückkehr erschien von Beginn an mehr als fraglich (Rückkehr in was eigentlich?). Durch die Bezeichnung „Massenevakuierung“ wurde all das in den deutschen Nachrichten völlig überdeckt und verdrängt bzw. zu einer Schutzmassnahme verklärt.

In ähnlicher Manier hiess es, die EU organisiere eine „Luftbrücke“, um der Zivilbevölkerung zu Hilfe zu kommen. „Luftbrücke“ – da sollte man sich an Berlin erinnern. Die „Luftbrücke“ der EU landete allerdings gar nicht in Gaza, sondern in Ägypten und die gelieferten Güter standen dann – mit tausend anderen LKWs vor dem Grenzübergang Rafah. Die Lieferung bestand aus 50 Tonnen Hilfsmitteln – das sind etwas mehr als zwei LKWs! Laut Auskunft des UN-Hilfswerks für Gaza sind für die Versorgung der Bevölkerung jeden Tag mindestens hundert LKWs nötig. Die EU hat also die Blockade von Gaza gebilligt und zugleich zwei LKWs über eine „Luftbrücke“ geschickt – so etwas hat in der Tat den Charakter von Desinformation.

Den Krieg der Bilder gewinnen

Im Unterschied zur Berichterstattung über die 1.400 Opfer der Hamas war diejenige über die mittlerweile mehr als 23.000 Toten durch die israelischen Bombardements und die Situation in Gaza relativ dürftig. Natürlich gab und gibt es Nachrichten über die „katastrophale humanitäre Lage der Zivilbevölkerung in Gaza“. Allerdings kann man über so etwas, wie jedermann weiss, so oder so berichten – zum Beispiel emotional aufwühlend wie bei den Reportagen aus den U-Bahn-Schächten in Kiew. Angesichts der Situation – die israelische Blockade, die Millionen zu Hunger und Durst verurteilt, Patienten ohne medizinische Versorgung, eine hilflos ihrer Vernichtung entgegensehende Bevölkerung, abgeriegelt ohne Ausweg – was wäre da alles denkbar? Man könnte die Blockade von Gaza als mittelalterlich und das Dauerbombardement als brutal und barbarisch charakterisieren. Man könnte herzzerreissende Reportagen über das Elend der Mütter und Kinder in Gaza bringen – eine „menschliche Katastrophe“, die man doch so keinesfalls zulassen könne und die den Einsatz aller denkbaren Mittel erfordert; Interviews mit Politikern, was Deutschland tun könne; Spendenaufrufe für die Opfer; regelmässige „Brennpunkte“ nach der Tagesschau.

Was gezeigt wurde, waren Bilder der Zerstörung aus Gaza oder aus den Flüchtlingslagern, allerdings relativ nüchtern. Meist subsumiert unter die Fragestellung, ob nicht alles Elend daran liegt, dass „zu wenig Hilfe“ ankommt – so als hätte man einen Fall von schlecht organisierter oder bestenfalls unterlassener Hilfeleistung im Kontext einer Naturkatastrophe vor sich und nicht eine bewusste Kriegsaktion.

Bilder „wie die nach den israelischen Luftangriffen fördern die Solidarität mit der palästinensischen Seite“ (Tagesthemen 28.10.23) – und das war, wenigstens in der ersten Phase der Berichterstattung, nicht erwünscht. Die deutschen Medien sahen sich aufgerufen, das Mitleid, das in der deutschen Bevölkerung nach den Bildern der israelischen Luftangriffen aufkommen könnte, zu relativieren und die Schuld für die anfallenden Opfer quasi pauschal der Hamas zuzuordnen, die sich „hinter der eigenen Zivilbevölkerung“ verschanzt.

Das hat sich inzwischen etwas geändert. Überraschend hat Aussenministerin Baerbock festgestellt, dass es auch im Westjordanland tote Palästinenser gibt und Israel sich dort und in Gaza über das humanitäre Völkerrecht hinwegsetzt. Weil die deutsche Politik, den USA folgend, ihre Diplomatie gegenüber Israel etwas modifiziert, ändert sich der Blickwinkel – das gibt dann auch eine etwas differenzierte Berichterstattung her ...

Gründe in Schuldfragen verwandeln

Die wesentliche Leistung der deutschen Medien liegt allerdings in der nationalen Deutung des neuen Kriegs in Nahost. Es ist dabei bemerkenswert, wie mit der „Vorgeschichte“ umgegangen wird. Im aktuellen Fall gibt es für die deutsche Politik und die deutschen Medien eine ¬– und zwar eine, die das darauffolgende Verhalten Israels vollumfänglich ins Recht setzt. Das ist der Überfall der Hamas vom 7. Oktober mit mehr als 1.400 Opfern und 229 verschleppten Geiseln. Die Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs – Euromaidan, verfassungswidrige Amtsenthebung des gewählten Präsidenten, Abspaltung der Volksrepubliken und ein Krieg mit 14.000 Toten – wurde dagegen in der deutschen Öffentlichkeit systematisch ausgeblendet.

Das gleiche gilt für die Vorgeschichte des Hamas-Überfalls, von der die deutschen Parteien wie die Leitmedien nichts wissen wollen. Es ist eine wirklich aussergewöhnliche Fähigkeit, sich für die Konstruktion des gewünschten Narrativs genau den Abschnitt der Ereignisse herauszusuchen, der dafür tauglich erscheint. Wie mit der Schere wird da etwas herausgeschnitten – ein Vorher gibt es plötzlich nicht mehr.

In diesem Fall reicht der Rückgriff auf die Vorgeschichte der jetzigen israelischen Militäraktionen genau bis zum 7. Oktober; was davor war, ist nicht von Interesse. Die Frage: Was hat diese Menschen eigentlich zu „Tieren“ gemacht – wenn man in der Diktion des israelischen Verteidigungsministers bleibt – wird (jedenfalls zurzeit) in Deutschland nicht gestellt, dafür wird keine Zeile und keine Sendeminute „verschwendet“. Das wurde bei ausländischen Medien durchaus anders gehandhabt: Die us-amerikanische Tageszeitung The Washington Post hat am 9.10. – also kurz nach dem Überfall der Hamas – eine „Chronologie des Israel-Palästina-Konflikts“ gebracht. Und der israelische Journalist Gideon Levy hat in seinem Kommentar in der israelischen Zeitung Haaretz vom 10. Oktober deutlich gemacht, in welchem Kontext der Überfall der Hamas steht – eine Kritik der israelischen Politik übrigens, die ein deutscher Journalist, eine deutsche Journalistin hierzulande zurzeit auf keinen Fall veröffentlichen könnte.

Durch diese Art der De-Kontextualisierung kommt man in Deutschland zu dem erwünschten Resultat, dass Israels Aktionen stets „Reaktionen“ sind. Darauf legen die deutschen Leitmedien unbedingt Wert: Alles, was passiert, ist eine Antwort auf die Gräueltaten der Hamas und deshalb legitim. Umgekehrt gelten die Taten der Hamas ihrerseits keinesfalls als Reaktionen; sie kamen angeblich völlig „überraschend“ – ein Ausbruch des Bösen, den niemand vorhersehen konnte. Die simple Logik, die dabei bemüht wird, ist mehr als kindisch: Wer angefangen hat, ist im Unrecht; wer antwortet, im Recht. Der Angreifer ist böse und der Verteidiger daher bei der Ausübung seiner Gewalt fraglos im Recht – ganz im Unterschied übrigens zur üblichen Beurteilung kindlicher Gewalt.

Wesentlich daran ist zweierlei. Erstens sind in der medialen Darstellung der Konflikte bereits alle Gründe in Schuldfragen verwandelt – ein Verfahren, das vor allem deshalb auf keinen grossen Widerspruch stösst, weil es sämtlichen moralisch denkenden Menschen (also allen) in Fleisch und Blut übergegangen ist und von ihnen tagtäglich selbst praktiziert wird. Zweitens wird die Fiktion aufgemacht, das Publikum sei hier als Richter gefragt und solle höchstpersönlich über die Gewalt, die von Terroristen bzw. verbündeten oder verfeindeten Staaten ausgeübt wird, urteilen. Eine Fiktion ist das deshalb, weil dem Publikum tatsächlich bestenfalls die Rolle zufällt, sich die vorgetragenen Rechtfertigungen einleuchten zu lassen oder eben nicht, während die Entscheidungen über alle wesentlichen Fragen (wie viele Bomben, wie viele Tote, welcher Kriegszweck, wer wird dafür wie in Haftung genommen?) woanders und nach anderen Kriterien getroffen werden.

Wie mit Abweichungen umgegangen wird

Wer in Deutschland zurzeit gegen Israels Vorgehen in Gaza protestiert oder demonstriert und sich damit gegen die offizielle deutsche Linie im Nahostkrieg stellt, kommt schnell in Schwierigkeiten. Ein paar Beispiele:
  • „Eklat“ anlässlich der Eröffnung der Buchmesse. Slavoj Zizek: „Ich verurteile den Angriff der Hamas auf Israelis nahe der Grenze zum Gazastreifen ohne Wenn und Aber, und ich gebe Israel das Recht, sich zu verteidigen und die Bedrohung zu vernichten. Mir ist jedoch etwas Seltsames aufgefallen: In dem Moment, in dem man die Notwendigkeit erwähnt, den Hintergrund der Situation zu analysieren, wird man in der Regel beschuldigt, den Terrorismus der Hamas zu unterstützen oder zu rechtfertigen. Ist uns bewusst, wie seltsam dieses Verbot einer Analyse ist?“ Zizek verurteilt die Hamas und legitimiert Israels Angriff auf Gaza als „Selbstverteidigung“. Er beugt sich aber nicht dem in Deutschland geltenden Grundsatz, den Kontext bewusst aussen vor zu lassen. Nach dem „Eklat“ erklärt die grüne Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg, Zizek habe den Terror der Hamas relativiert durch Verknüpfung mit dem ungelösten Palästina-Problem. Wer im Zusammenhang mit dem Hamas-Terror auch nur an die Vorgeschichte erinnert, „relativiert den Terror“.
  • Malcolm Ohanwe, ein Journalist, auf X: "Wenn die Zunge der Palästinenser systematisch abgeschnitten wird, wie sollen sie sich mit Worten wehren? Wenn das Wahlrecht der Palästinenser unterbunden wird, wie sollen sie sich mit Kreuzen wehren? Wenn ihre Bewegung eingeschränkt wird, wie sollen sie sich mit Demos wehren? Was erwarten Leute?" Dazu verlinkte er eine englischsprachige Veröffentlichung von Amnesty International aus dem vergangenen Jahr über "Israels Apartheid gegen Palästinenser". Wer daran erinnert, dass Terror aus Ohnmacht entsteht und dann noch auf die Seite von Amnesty verlinkt, ist als Journalist untragbar. Die Konsequenz: umgehende Kündigung durch Arte und den Bayerische Rundfunk.
  • Anwar El Ghazi, ein Fussballprofi, schrieb „er sei gegen ‚Krieg und Gewalt, das Töten unschuldiger Zivilisten, Diskriminierung, Islamophobie, Antisemitismus, Völkermord, Apartheid, Besatzung und Unterdrückung'. Zwischenüberschrift: El Ghazi verschweigt Tote in Israel. ,Die Tötung von mehr als 3.500 Kindern in Gaza in den vergangenen drei Wochen kann niemals gerechtfertigt werden. Wie können wir als Welt schweigen, wenn nach Angaben der Wohltätigkeitsorganisation ,Rettet die Kinder' alle zehn Minuten ein Kind in Gaza getötet wird? Das sind neun getötete Kinder in der Zeit, in der ich ein Fussballspiel absolviere.' El Ghazi erwähnt in seinem Posting an keiner Stelle die israelischen Zivilisten, die beim Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober auf brutale Art und Weise getötet, gefoltert oder verschleppt worden waren.“ (Die Welt 1.11.2023) Der Fussballer sagt für alle deutlich vernehmbar, dass er gegen „Krieg und Gewalt, das Töten unschuldiger Zivilisten, Diskriminierung, Islamophobie, Antisemitismus, Völkermord, Apartheid, Besatzung und Unterdrückung“ ist. Das reicht nicht. Dass er auch gegen die vielen toten Kinder in Gaza ist, ohne gleichzeitig über die toten Kinder in Israel zu reden, ist nicht hinzunehmen. Wer etwas nicht sagt, verschweigt nämlich die Toten in Israel, und wer über die schweigt, ist vermutlich nicht dagegen, dass sie umgebracht wurden. Konsequenz: Rauswurf.
  • Greta Thunberg und Fridays for Future werden attackiert, weil sie auf ihren Demos „Gerechtigkeit für Palästina“ verlangen und in den sozialen Medien kritisiert hatten, dass man bei den Bomben auf Gaza nicht von einem Krieg reden könne, sondern ein Genozid passiere. Die Reaktion: Das sei purer Antisemitismus, „Hamas-Sprech“ (Tagesschau) bzw. „grenzenloser Judenhass“ (Bild). Klar: Wer verlangt, dass nicht noch mehr palästinensische Kinder sterben, kann nur von Judenhass getrieben sein. Konsequenz: Bild tritt eine neue Kampagne gegen „Klima-Greta“ los; Tenor: Klimaschutz (für den Bild ja ansonsten massiv eintritt), sei bei FFF passé, dafür herrsche Hamas-Propaganda; die ganze Bewegung sei unglaubwürdig. Die deutsche Sektion distanziert sich.
  • In den ersten Wochen nach dem 7. Oktober gab es erhebliche Einschränkungen der Versammlungsfreiheit bei pro-palästinensischen Demonstrationen. Seitdem am ersten Novemberwochenende trotz aller Hetze mehrere grosse Demos stattgefunden haben, gab es eine Debatte, wie diese weiter eingeschränkt werden könnten. Argumente: Das seien Treffen von „Israel-Hassern“ und „Antisemiten“ (Andreas Kopietz von der Berliner Zeitung auf X); „Terrorunterstützung“, „Israel-Feindlichkeit“, „Antisemitismus“, „Unterstützung von Hamas“ (Roderich Kiesewetter, CDU).
Man sieht: die deutsche Öffentlichkeit stellt ein regelrechtes Minenfeld dar. Der Antisemitismusvorwurf steht bei Protesten gegen Israels Blockade und Bombardierung ständig im Raum. Alle möglichen Instanzen sehen sich nicht nur jetzt, aber jetzt besonders, aufgerufen, über politische Korrektheit zu wachen – deutsche Politiker, die Schulbehörden, die EU, die Medien, das jüdische Museum, der israelische Botschafter, Bild. Adressat sind ebenfalls alle möglichen, vor allem aber die bisherigen Unterstützer der Palästinenser unter den Linken und natürlich die Muslime in Deutschland, die erneut – wie in Zeiten des Kriegs gegen den Terrorismus – unter Generalverdacht gestellt werden.

Gleichsetzungen und Unterstellungen

Wie kommt man auf die Behauptung, wer gegen die Fortsetzung des Kriegs in Gaza und mehr Tote demonstriert, sei per se antisemitisch und von „Judenhass“ getrieben? Das geht nur durch Gleichsetzungen. Wer „gegen das Sterben in Gaza“ ist, dem wird unterstellt, dass er damit auch „pro-Palästina“ ist; wer „pro-Palästina“ ist, soll auch für die „Hamas“ sein; wer für die „Hamas“ ist, bestreitet das „Existenzrecht Israels; wer das „Existenzrecht Israels“ bestreitet, soll ein Feind aller Juden sein.

Jede dieser Gleichsetzungen ist eine Unterstellung: Wer gegen das Sterben in Gaza ist, ist keineswegs deshalb auch schon für ein palästinensisches Staatsprojekt; wer für eine Zweistaatenlösung, also einen palästinensischen Staat ist, ist nicht unbedingt ein Anhänger der Hamas; wer mit der Hamas sympathisiert, muss nicht deren Programmatik teilen, dass die Existenz eines Staats Israel rückgängig gemacht werden müsse. Und wer der Existenz des Staats Israels nicht viel abgewinnen kann, muss deshalb keineswegs ein Feind aller Juden sein oder gar ihre Vernichtung im Sinn haben. Alle diese falschen Gleichsetzungen werden innerhalb einer Sekunde vollzogen. Das funktioniert eigentlich nur, weil der Vorwurf des Antisemitismus eine so harte moralische Anklage ist, dass schon jede Form von Nachdenken eine Relativierung darstellt.

Sicher gibt es in Deutschland antisemitische Äusserungen und antisemitische Taten. Wie wäre es dagegen mit Kritik des nationalistisch-rassistischen Denkens, zu dem der Antisemitismus gehört? Und es gibt viel Muslime mit ihrem traditionellen und politisierten Islam; da ist – wie bei Christen, Juden, Buddhisten und Hinduisten sowie ihren religiös-fanatischen Ablegern – an die gute alte Religionskritik zu erinnern. Der Antisemitismusvorwurf, wie er in Deutschland im Augenblick verwendet wird, ist aber nicht einfach das Ergebnis einer misslingenden antirassistischen oder religionskritischen Aufklärungskampagne. Vielmehr dient er gezielt dazu, diejenigen einzuschüchtern oder mundtot zu machen, die eine begründete Kritik an Programm und Vorgehen des Staats Israel haben. Es ist nämlich nicht so, dass in der deutschen Öffentlichkeit „Antisemitismus“ verboten, „Kritik an Israel“ aber erlaubt sei – wie Bild und Robert Habeck behaupten. Im Augenblick wird jegliche „Kritik an Israel“ bewusst und willentlich mit „Antisemitismus“ in eins geworfen und damit pauschal diskreditiert.

Das beabsichtigte Klima von Angst und Einschüchterung ist auch eingetreten. Das hält etwa die Süddeutsche Zeitung fest, der arabischstämmige Gesprächspartner abspringen, „weil sie um ihren Aufenthaltsstatus fürchten, um staatliche Förderung für ihre Projekte oder einfach nur um ihren Ruf.“ (6.11.23)

Nachweise für tatsächlichen Antisemitismus bleiben die Behauptungen in den Medien meist schuldig; vielmehr wird offenbar darauf gesetzt, dass der Hinweis auf eine Palästina-Fahne schon reicht, um die oben dargelegten Verkettungen in Gang zu setzen: „Da sieht man es ja schon!“

Mit seiner als „wundervoll“ gefeierten Rede vom 2.11.2023, in der er den gesamten Zweiten Weltkrieg zum „Vernichtungskrieg gegen die Juden“ umzudeuten wusste, hat Robert Habeck eine elegante Art und Weise gefunden, das beliebteste deutsche Wahlkampfargument dieser Zeit – Flüchtlingsbashing – mit dem grünen Moralismus zu verknüpfen. Nein, natürlich sind die Grünen nicht einfach gegen Geflüchtete wie die böse AfD; aber ebenso „natürlich“ müssen die Grünen und „wir“ die „hier lebenden Muslime“ sortieren – in gute, die sich an „unsere“ Leitlinien halten, und böse, denen „wir“ Antisemitismus nachweisen, um sie dann mit dem besten Gewissen der Welt entsprechend zu behandeln. So setzen sich die Grünen, die in den Wahlumfragen nicht sonderlich gut dastehen, auf eine ziemlich billige Art und Weise in Szene. Klare Kante gegen Linke und Muslime – das kostet nichts und sorgt für Stimmen und gute Stimmung „im Land der Täter“.

Halten wir am Ende fest: Es gab in diesem Fall von Anfang an eine nationale Leitlinie. Die etablierten Medien haben das nicht etwa als Anschlag auf ihre viel gerühmte Freiheit begriffen, sondern als Auftrag wahrgenommen. Sie haben sich darin ebenso als Medium bewährt, das die Vermittlung zwischen Staat und Bürgern gewährleistet, wie als 4. Gewalt im Staat, auf die Verlass ist. Das alles ohne staatliche Gleichschaltung und zentrale Direktive. Gespenstisch! P. S.: Wer die Völkermordanklage Südafrikas (dokumentiert in der jW vom 11.1.23) liest, spürt schmerzlich, wie gut es den hiesigen Medien gelungen ist, die erschütternde Faktenlage aus dem öffentlichen Bewusstsein herauszuhalten. Dass die Bevölkerung das mehrheitlich hinnimmt, ist ebenfalls gespenstisch.

Renate Dillmann

Renate Dillmann ist Autorin von „China – ein Lehrstück“ (2021) und „Abweichendes zum Ukraine-Krieg“ (2023)